Die kleinen Lichter unter dem Eis

Mila liebte es, früh morgens spazieren zu gehen, bevor die Welt wach wurde. In der Vorweihnachtszeit lag eine besondere Stille im Wald – so sanft, dass sie das Gefühl hatte, sogar die Zeit würde für einen Moment langsamer werden.

An diesem Morgen war der Frost besonders stark. Eiszapfen hingen wie feine Kristallspeere von den Ästen, und der Schnee glitzerte, als hätte jemand unzählige Sterne hineingestreut. Als Mila sich bückte, um eine Schneeflocke genauer zu betrachten, bemerkte sie etwas Seltsames: ein sanftes, warmes Leuchten direkt unter der Schneedecke.

Sie kniete sich hin und strich vorsichtig die obere Schicht Schnee zur Seite. Und dann erstarrte sie – vor Staunen, nicht vor Kälte.

Unter den Schneehügeln tanzten kleine Lichtwesen. Zarte Gestalten, kaum größer als eine Hand; ihre Körper bestanden aus purem Licht, ihre Bewegungen aus Freude. Einige wirbelten umeinander, andere streckten ihre Arme aus, als würden sie den Morgen begrüßen.

Mila hielt die Luft an. Doch die Lichtwesen erschraken nicht. Im Gegenteil – eines von ihnen hüpfte näher, zog einen sanften Bogen aus Licht in die Luft und berührte ihre Hand. Es fühlte sich an wie Wärme, wie Trost, wie ein Lächeln, das man nicht sieht, aber spürt.

Da verstand Mila, was diese Wesen wirklich waren:
Sie waren die kleinen Taten der Menschen, die in der Vorweihnachtszeit entstanden. Freundliche Worte. Geteilte Momente. Kleine Gesten der Hilfe. Alles, was warm machte – schwebte als Licht in dieser stillen Welt.

Die Wesen zeigten ihr Szenen: eine ältere Frau, die für ihren Nachbarn Plätzchen buk; ein Junge, der seinem Freund die kaputte Mütze nähte; eine Fremde, die im Bus einem anderen ihren Platz überließ.

Mila fühlte Tränen in ihren Augen – nicht vor Traurigkeit, sondern vor diesem überwältigenden Gefühl, dass Güte niemals verloren ging. Sie wuchs. Sie leuchtete.

Als die Sonne höher stieg, verblassten die kleinen Lichter unter dem Eis, doch die Wärme blieb tief in Milas Brust.


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