Die Gedanken im Schaufensterlicht
Mira liebte die Altstadt im Winter. Nicht wegen der Geschäfte, nicht wegen der Angebote, nicht einmal wegen des Glitzers, der überall hing. Es war das Licht. Dieses besondere, warme Licht, das jede Scheibe verwandelte, als würde sich dahinter ein Stück anderer Welt verbergen.
An diesem Abend fiel der Schnee leise, wie ein flüsternder Mantel. Die Laternen warfen goldene Lichtkreise auf den Boden, und Mira lief langsam, ohne Ziel. Sie hatte das Gefühl, dass der Dezember sie leiten würde, wohin sie gehen musste. Die Schaufenster waren prachtvoll dekoriert. Bunte Kugeln, Kränze, kleine Tannen. Doch keines dieser Dinge waren es, die Mira fesselten.
Es waren die Spiegelungen darin.

In der großen Scheibe eines Spielwarenladens sah sie sich selbst — etwas verzogen durch das alte Glas. Und plötzlich erinnerte sie sich an früher. An die Zeit, in der sie als Kind mit ihrer Mutter hier entlanggegangen war, die Nase an der kalten Scheibe, voller Träume, voller Fantasie.
Doch dieses Mal sah sie etwas anderes in ihrem Spiegelbild:
eine Frau, die viel zu oft durchs Leben eilte, ohne wirklich zu sehen.
Mira blieb stehen. Der Strom der anderen Menschen zog an ihr vorbei.
Doch sie tat nichts — sie stand einfach nur da und sah zu, wie ihr Atem vor der Scheibe aufstieg.
In diesem Moment wurde ihr bewusst:
Diese Schaufenster waren nicht dazu da, Dinge zu präsentieren.
Sie waren dazu da, Menschen zu spiegeln.
Wie oft rannte man an sich selbst vorbei, ohne zu merken, was man sah?
Mira lächelte. Nicht, weil die Dekoration so schön war — sondern weil sie sich selbst inmitten davon wiedergefunden hatte. Mit einem ruhigeren Atemzug setzte sie ihren Weg fort. Der Schnee fiel weiter.
Und plötzlich fühlte sich die Altstadt nicht mehr wie ein Ort voller Dinge an —
sondern wie ein Ort voller Hinweise, Gedanken und Schaufensterlicht.
💖Erinnerung zum Mitnehmen
Manchmal zeigt dir ein Spiegel nicht dein Gesicht — sondern den Moment, in dem du wieder zu dir findest.
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