Der Weg der tausend Laternen

Liana war schon oft durch diesen Wald gegangen, aber nie hatte er so ausgesehen wie an diesem Abend. Der Schnee glitzerte wie feiner Staub aus Sternen, und über den Baumwipfeln tanzten die Nordlichter, so lebendig, als würden sie atmen.

Doch das, was sie wirklich stehen bleiben ließ, waren die Laternen.

Sie tauchten aus dem Dunkel auf, eine nach der anderen – sanft leuchtende kleine Flammen, die einen geheimnisvollen Pfad durch die verschneiten Tannen markierten. Manche hingen an den Zweigen, andere standen im Schnee, und jede von ihnen schien eine eigene kleine Geschichte zu flüstern.

Liana folgte dem Weg der tausend Laternen.
Sie wusste nicht, wer die Laternen entzündet hatte, aber ihre Wärme fühlte sich an wie ein vertrauter Händedruck, ein stiller Trost nach einem langen Jahr voller Höhen und Tiefen. Während sie durch den Wald ging, spürte sie, wie etwas in ihr weicher wurde. Diese kleinen Flammen erinnerten sie an Menschen, die ihr Licht geteilt hatten – manchmal bewusst, manchmal ohne es zu merken.

Die Nachbarin, die ihr im Sommer frische Beeren brachte. Der Fremde an der Kasse, der ihr Lächeln erwiderte, als sie einen schweren Tag hatte. Der Freund, der immer dann schrieb, wenn sie ihn am meisten brauchte. Jede Laterne war wie ein Zeichen dafür, dass wir nie wirklich allein sind. Und plötzlich verstand sie: Dieser Pfad war nicht für irgendeinen Menschen gemacht.

Er war für alle, die in der Vorweihnachtszeit innehalten – und erkennen wollen, was sie durchs Jahr getragen hat. Am Ende des Weges stand eine besonders große Laterne. Ihr Licht war goldener, wärmer, tiefer als das der anderen.

Liana trat näher. In ihrem Innersten fühlte sie etwas aufleuchten: Dankbarkeit. Aber auch ein Wunsch – der Wunsch, selbst eine Laterne zu sein. Für jemanden, der Licht braucht und sich verloren fühlt. Und für jemanden, der vielleicht gerade hofft, dass irgendwo ein warmes Leuchten auf ihn wartet.

Sie hob eine Hand, als würde sie dem Wald ein Versprechen geben – ein leises, ernst gemeintes Einverständnis mit dem Leben.


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