Der Tempel über den Wolken
Die Sonne versinkt im Meer aus Wolken, und der Himmel brennt in Gold und Purpur. Hoch darüber schwebt der Tempel – ein gewaltiges Bauwerk aus Türmen und Kuppeln, so alt, dass niemand mehr weiß, wer ihn errichtet hat. Seine Mauern glühen wie von innen erhellt, als atmete er das Licht selbst.
Seit meiner Kindheit erzählte man sich Geschichten über diesen Ort. Manche nannten ihn das „Haus der Götter“, andere sagten, er sei eine Stadt der Verlorenen, in der die Seelen weiterleben. Ich aber wusste, dass der Tempel mich eines Tages rufen würde – und heute war dieser Tag gekommen.
Ein einzelner Drache kreist am Rande des Bauwerks, als wolle er prüfen, wer würdig ist einzutreten. Schwärme von Vögeln ziehen durch den feurigen Himmel, ihre Schatten tanzen über den goldenen Dächern. Die Luft hier oben ist still und doch voller Erwartung, als hielte die Welt den Atem an.
Ich setze meinen Fuß auf die schwebende Brücke, die vom Wolkenmeer direkt zu den Toren des Tempels führt. Unter mir nichts als endlose Weite, über mir die mächtigen Tore, deren Flammenornamente wie lebendig wirken. Jeder Schritt hallt nach, als sei ich der Erste seit Jahrhunderten, der diesen Weg geht.
Im Inneren umfängt mich ein warmes, goldenes Licht. Es gibt keine Menschen, keine Stimmen – nur das leise Summen, das von den Wänden zu kommen scheint. In der Mitte des Raumes schwebt eine Kugel aus reinem Licht, und als ich nähertrete, sehe ich in ihr Szenen aus einer anderen Zeit: Schlachten, Feiern, Geburten, Abschiede. Es ist, als würde der Tempel das gesamte Leben bewahren, die Essenz aller, die je hier waren.
Ich verstehe: Dieser Ort ist kein Ziel, sondern ein Hüter. Er sammelt, was die Welt zu verlieren droht, und gibt es jenen zurück, die bereit sind, es zu tragen.
Als ich den Tempel verlasse, färbt der Sonnenuntergang die Wolken in tiefes Rot. Der Drache fliegt neben mir her, bis ich den ersten Nebel unter mir spüre. Und tief in mir weiß ich – ich werde zurückkehre.
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