Das Weihnachtsbuch, das Erwachsene weckte
Der Dezembermorgen war still, als Hanna die verstaubte Holzkiste im Wohnzimmer öffnete. Jedes Jahr suchte sie dasselbe Buch heraus – das schwere, grüne Weihnachtsbuch mit den goldenen Rändern und dem gemalten Baum auf dem Cover. Doch dieses Jahr fühlte sich etwas anders an. Vielleicht, weil die letzten Monate sie müde gemacht hatten. Vielleicht, weil sie merkte, wie sehr sie sich selbst verloren hatte zwischen Terminen, Erwartungen und stillen Sorgen.

Ihr Sohn Luca lief neugierig herbei. „Liest du’s mir wieder vor, Mama?“
„Natürlich“, sagte sie – doch innerlich wusste sie: Dieses Buch würde heute nicht nur ihm guttun.
Sie zündete eine Kerze an. Der Duft von Zimt stieg in die Luft. Der Tee dampfte leise neben ihr. Sie schlug das Buch auf – und in dem Moment, in dem ihre Finger über die ersten Worte glitten, geschah etwas Seltsames:
Die Welt wurde langsamer.
Luca setzte sich an sie, kuschelte sich an ihren Arm. Seine Augen glänzten vor Erwartung. Kinder hatten noch diese Leichtigkeit – dieses Selbstverständnis, dass Geschichten real waren. Nicht im Außen, aber im Innen. Sie lebten von Natur aus dort, wo Erwachsene jahrelang nicht mehr hinkamen: im Raum der Fantasie, des Bewusstseins, des inneren Staunens.
Während Hanna laut las, spürte sie, wie die Worte nicht nur für Luca in die Luft schwebten – sondern auch zu ihr zurückkamen.
Sanft. Erinnernd. Wie kleine Funken, die etwas in ihr berührten, das sie lange nicht gespürt hatte.
Was, wenn das Vorlesen nie für die Kinder gedacht war? Was, wenn Geschichten eigentlich die Erwachsenen wecken sollten? Damit sie wieder fühlen. Wieder sehen. Wieder staunen.
Luca lachte an einer Stelle hell auf, und Hanna musste lächeln. Nicht über die Geschichte – sondern über den Moment.
Zum ersten Mal seit langem wurde ihr klar:
Das Weihnachtsbuch, das Erwachsene weckte und ihrem Sohn die Fantasie schenkte, war auch ein Geschenk an sie selbst.
💖 Erinnerung zum Mitnehmen
Manchmal erzählen wir Kindern Geschichten – doch in Wahrheit erinnern sie uns daran, wer wir einmal waren.
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