Das Leuchten unter dem Wasser
Ich erreiche den Steg, als der Himmel in Purpur und Blau aufflammt. Der See liegt glatt wie Glas, nur der einsame Baum auf der Insel durchbricht die Fläche und spiegelt sich doppelt – einmal hier, einmal dort, als hätte die Welt eine zweite Seite. Gleich unter dem Holz beginnt das sanfte Funkeln: dünne Stiele, zarte Tellerchen, ein ganzes Feld aus Licht. Der See ist ein leuchtender See, und doch bleibt es still, als hätte er das Sprechen längst verlernt und sich für das Glimmen entschieden.
Früher kam ich hierher, um Antworten zu erzwingen. Heute setze ich mich und warte, bis die Fragen sich selbst sortieren. Das Leuchten unter dem Wasser pulsiert, langsam, als atmete der Grund. Einmal erzählt mir eine alte Frau, das seien „Erinnerungsblumen“. Sie wüchsen dort, wo Menschen etwas Schweres losließen. Vielleicht ist es ein Märchen. Vielleicht ist es genau richtig so.
Der Himmel färbt sich tiefer. Wind zieht über die Oberfläche, und der Baum raschelt kaum hörbar. Ich denke an all die Male, in denen ich zu schnell gehen wollte: weiter, höher, anders. Dabei hatte ich längst, was ich suchte – ich sah nur nicht hin. Der See zeigt mir das auf seine ruhige, geduldige Art. Wo anders Lärm wäre, ist hier Licht.
Ich beuge mich vor, und im Spiegel unter mir erscheint ein Gesicht, das mir vertraut ist und doch neu. Zwischen den glimmenden Stielen fließt das Dunkel, aber es wirkt nicht bedrohlich. Es ist der Raum, in dem das Leuchten sichtbar wird. Ich verstehe: Nicht alles muss gelöst werden. Manches darf einfach hell sein.
Vom Schilf her klingt ein kurzer Laut, als nickte die Welt mir zu. Ich nehme einen tiefen Atemzug, zähle die Schimmerpunkte – viel zu viele, um sie zu fassen – und lasse die letzten harten Kanten meiner Gedanken ins Wasser sinken. Das Licht im See antwortet nicht, es begleitet. Der Baum hält still Wache.
Als ich gehe, bleibt der Steg hinter mir leer. Doch in mir leuchtet etwas weiter, beharrlich und freundlich. Vielleicht wachsen dort jetzt auch Erinnerungsblumen. Vielleicht braucht es dafür keinen Beweis – nur einen Abend am leuchtenden See.
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