Wenn das Eis zu sprechen beginnt

Der Wind war an diesem Abend fast nicht zu hören. Der See lag still, als hätte er beschlossen, alle Geräusche der Welt einzusammeln und einzuschließen. Nur das Nordlicht bewegte sich — ein leuchtender Schleier, der in Farben pulsierte, die zu schön wirkten, um echt zu sein.

Nora stand am Rand des Sees und beobachtete die Eisfiguren, die jemand im Laufe der letzten Tage geformt hatte.

Es waren keine klar definierten Formen, keine perfekten Statuen.

Sie wirkten eher wie Andeutungen von Wesen — sitzend, lauschend, wartend.

Als Nora langsam über das Eis ging, hörte sie ihr eigenes Knirschen unter den Stiefeln.

Doch dann geschah etwas Seltsames. Sobald sie stehen blieb, war wieder alles still. Eine Stille, die nicht leer war — sondern voll. Voll von etwas, das sie nicht sofort greifen konnte.

Die Eisfiguren glitzerten im Nordlicht. Ihre Schatten tanzten über die glatte Fläche, und Nora spürte, wie eine sanfte Gänsehaut ihren Rücken hinaufkroch. Nicht aus Kälte — sondern aus dieser seltenen Art von Berührung, die das Innerste erreicht.

„Was wollt ihr mir zeigen?“, flüsterte sie. Natürlich antwortete niemand. Und doch fühlte sie eine Antwort. Vielleicht ging es nicht darum, Worte zu hören, denn die Botschaft war längst da, im stillen Raum zwischen Licht und Eis:

Dass alles, was man sucht, oft schon da ist — aber erst sichtbar wird, wenn man in sich selbst ruhig genug wird, um es zu erkennen. Nora schloss die Augen. Im Dunkel hinter ihren Lidern sah sie die Farben des Himmels weiter tanzen.

Und für einen Moment wusste sie:
Diese Figuren standen nicht da, um betrachtet zu werden.
Sie standen da, um zu erinnern.
Daran, dass Stille nicht Abwesenheit ist — sondern ein Tor, das man zu lange nicht geöffnet hat.


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