Die Geschichte, die dich wiederfindet

Mila liebte den Geruch alter Bücher. Diese Mischung aus Papier, Staub und Zeit hatte etwas Tröstliches an sich — wie ein stiller Hinweis darauf, dass Geschichten nie wirklich vergehen.

An diesem Abend, mitten im Dezember, suchte sie Ruhe und zog sich mit einer warmen Tasse Tee zurück. Schneeflocken klopften leise an das Fenster, und das Haus um sie herum war still.

Sie legte das Weihnachtsbuch vor sich hin, ein Erbstück ihrer Großmutter. Der Einband war abgegriffen, die Seiten wellig vom vielen Lesen. Doch als sie es aufschlug, leuchteten ihr die Illustrationen entgegen, als wären sie erst gestern gemalt worden.

Auf der linken Seite sah sie einen verschneiten Wald, beladen mit Geschenken, die jemand liebevoll verteilt hatte. Auf der rechten Seite einen warmen Raum mit Kaminfeuer, in dem eine Figur Geschichten vorlas. Mila lächelte.

Als Kind hatte sie geglaubt, dass diese Welten wirklich existierten — nicht nur im Buch, sondern irgendwo da draußen, erreichbar, wenn man nur fest genug daran glaubte.

Während sie die Zeilen las, spürte sie, wie etwas in ihr weicher wurde. Nicht, weil die Geschichte besonders aufregend war. Sondern weil sie Erinnerungen auslöste, die sie längst verloren geglaubt hatte.

Die Erinnerung daran, wie ihre Großmutter mit ruhiger Stimme gelesen hatte. Wie Mila damals zugehört hatte, ohne ein einziges Wort zu verpassen. Wie sie sich dabei nie allein gefühlt hatte — selbst wenn draußen ein Schneesturm tobte.

Je weiter sie las, desto klarer wurde ihr:
Manchmal sucht man Geschichten nicht. Die Geschichten finden dich — genau in dem Moment, in dem du es brauchst.

Die Worte, die Bilder, der Tee, die Wärme — alles wurde zu einem Zuhause, das nicht an einen Ort gebunden war, sondern an ein Gefühl.

Mila schloss das Buch und legte die Hand auf den Einband.
Nicht, um es zu bewahren — sondern um sich selbst zu erinnern.


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