Der Garten aus tausend Lichtern

Der Winterabend war dunkler als sonst, als Linus über den verschneiten Weg ging. Der Himmel war wolkenverhangen, der Wind wehte kalt, und die Stadt lag in einem stillen Blau. Linus war müde — nicht körperlich, sondern innerlich. Einer dieser Tage, an denen alles schwerer wirkte, als es war. Doch als er die kleine Gasse erreichte, die hinter dem alten Gästehaus lag, blieb er abrupt stehen. Vor ihm öffnete sich ein Garten, den er nie zuvor wirklich wahrgenommen hatte.

Und heute — heute strahlte er.

Laternen leuchteten überall, warm und golden, ihre Flammen tanzten leise im Wind. Schnee lag weich auf den Wegen, glitzerte im Licht wie feiner Staub. Büsche und Bäume waren mit bunten Lichtern geschmückt, manche sanft schimmernd, andere funkelnd wie Sterne, die heruntergefallen waren.

Linus ging langsam weiter, fast ehrfürchtig. Es war, als würde dieser Garten etwas flüstern, ohne ein einziges Wort.

Er blieb vor einer kleinen Laterne stehen, deren Glas matt war und doch am hellsten von allen leuchtete. Er sah hinein — und erkannte sein eigenes Spiegelbild.

Müde Augen. Ein ernster Ausdruck. Aber auch etwas anderes:
Ein Funken.

Warum sehe ich das erst jetzt?“, murmelte er.

Eine ältere Frau, die gerade hinter einem Busch etwas anordnete, hörte ihn und lächelte.
Weil manche Lichter erst erscheinen, wenn du bereit bist, sie zu sehen.
Linus blinzelte.

„Der Garten sieht jeden Abend so aus“, sagte sie freundlich. „Aber die meisten laufen vorbei. Sie suchen nur das große Leuchten — und übersehen dabei das viele kleine.“ Er sah sich erneut um. Die vielen kleinen Lichter. Alle zusammen formten einen Garten, der heller war als jede Straßenlaterne der Stadt.

Vielleicht war das Leben genauso, dachte er. Es war nie ein einzelnes Licht, das den Weg zeigte. Es waren viele kleine — nur musste man stehen bleiben, um sie zu erkennen.


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