Der Pfad zwischen den Wolken

Die Vorweihnachtszeit hatte Clara schon immer berührt. Nicht wegen des Trubels, nicht wegen der Traditionen – sondern wegen des leisen Gefühls, das in diesen Wochen über die Welt glitt. Ein Gefühl, als würde alles ein kleines bisschen näher zusammenrücken. Doch in diesem Jahr fiel es ihr schwer. Die Tage waren voll, die Gedanken laut. Sie sehnte sich nach Ruhe, nach etwas, das sie wieder spüren ließ, warum diese Zeit so besonders war und so fand sie den Pfad zwischen den Wolken.

Und so fand sie sich eines Morgens in einem Traum wieder, der sich echter anfühlte als jeder Tag.

Vor ihr schwebten Inseln aus Schnee über einem Meer aus Wolken. Bäume funkelten wie mit Sternen bestückt, Eiskristalle hingen von den Ästen und glitzerten im warmen Licht des Sonnenaufgangs. Zwischen den Inseln spannten sich Brücken, die aussahen, als wären sie aus purem Frost gewebt.

Clara setzte vorsichtig einen Fuß auf die erste Brücke. Sie hielt den Atem an – doch statt zu brechen, trug sie das Licht der Sonne wie eine zarte Hand. Mit jedem Schritt wurde der Lärm in ihrem Kopf leiser. Und je höher sie stieg, desto ruhiger wurde ihr Herz.

Auf einer der Inseln stand ein Baum, größer und älter als die anderen. Seine Äste leuchteten in einem warmen, goldenen Schimmer – und unter ihm lag eine kleine Erinnerung verborgen.

Clara erkannte sie sofort.

Es war der Moment, in dem sie im letzten Winter einer überforderten Mutter im Supermarkt geholfen hatte. Nur eine Kleinigkeit, ein Lächeln, ein paar beruhigende Worte. Danach war sie einfach weitergegangen und hatte nie wieder daran gedacht.

Doch hier, über den Wolken, glühte dieser Moment wie eine Laterne. Da verstand Clara:

Sie war das, was die Menschen sich gegenseitig schenkten – leise, unauffällig, ohne Absicht. Kleine Funken, die den Winter heller machten. Mit einem warmen Ziehen im Herzen ging Clara weiter, bis sie wieder festen Boden spürte. Der Traum verblasste, doch die Botschaft blieb.

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